Der sog. „Zangezur-Korridor“ ist ein Mythos und dessen Umsetzung rechtswidrig
Der jüngste aserbaidschanische Angriff auf die Republik Armenien, der den Tatbestand der Aggression gemäß der UN-Resolution 3314 (XXIX) vom 14. Dezember 1974 erfüllt und gegen das in Artikel 2 Nr. 4 UN-Charta statuierte allgemeine Gewaltverbot verstößt, wird von aserbaidschanisch-türkischer Seite hauptsächlich damit begründet, dass Armenien sich weigert, den sog. „Zangezur-Korridor“ zu öffnen.
„Zangezur-Korridor“ ist ein Konzept für einen Verkehrskorridor, der Aserbaidschan bei seiner Umsetzung ungehinderten Zugang zur Autonomen Republik Nachitschewan ohne armenische Kontrollpunkte über die armenische Provinz Syunik und im weiteren Sinne für den geopolitischen Korridor ermöglichen würde, der die Türkei mit dem Rest der türkischen Welt verbinden und sie somit „vereinen“ würde. Sie ist somit Teil einer pan-türkischen, anti-armenischen Agenda.
Dass der sog. „Zangezur-Korridor“ aus rechtlicher Sicht ein Mythos ist und dessen zwangsweise Umsetzung ohne Weiteres rechtswidrig wäre zeigt folgender Umstand:
Aserbaidschan und die Türkei berufen sich in Bezug auf den „Zangezur-Korridor“ auf Ziffer 9 der trilateralen Erklärung vom 9. November 2020:
Dieser besagt:
„Alle wirtschaftlichen Aktivitäten und Verkehrsverbindungen in der Region sollen uneingeschränkt möglich sein. Die Republik Armenien garantiert die Sicherheit der Verkehrsverbindungen zwischen den westlichen Regionen der Republik Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan, um die ungehinderte Bewegung von Bürgern, Fahrzeugen und Fracht in beide Richtungen zu organisieren. Die Transportkontrolle wird von den Organen des Grenzdienstes des FSB Russlands durchgeführt. Im Einvernehmen der Parteien soll der Bau einer neuen Infrastruktur erfolgen, die die Autonome Republik Nachitschewan mit den Regionen Aserbaidschans verbindet.“
Die Wortlautauslegung legt nahe, dass es sich bei der Öffnung der „Verkehrsverbindungen zwischen den westlichen Regionen der Republik Aserbaidschan und der Autonomen Republik Nachitschewan“ nicht um einen Korridor, sondern um eine einfache Transportroute zur Entsperrung regionaler Verkehrswege handelt.
Im Unterschied zu einer Transportroute würde die Öffnung eines Korridors eine Verletzung der Souveränität und der territorialen Integrität Armeniens darstellen. Gemäß Art. 205 Nr. 1 der Verfassung der Republik Armenien werden die Fragen im Zusammenhang mit territorialen Änderungen der Republik Armenien durch Referenden gelöst. Ein solches Referendum ist nicht durchgeführt worden. Im Übrigen würde ein Korridor gegen das in Art. 1 der Verfassung niedergeschriebene Souveränitätsprinzip verstoßen. Die Gewährung eines Korridors ohne Referendum würde zudem den Tatbestand des Hochverrats nach Art. 299 Abs. 1 des armenischen Strafgesetzbuches erfüllen. Darunter werden Handlungen erfasst, die von einem Bürger der Republik Armenien zum Nachteil der Souveränität, territorialen Unverletzlichkeit oder äußeren Sicherheit der Republik Armenien begangen werden.
Sergej Lawrow, Außenminister der Russischen Föderation, sagte auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem armenischen Außenminister Ararat Mirzoyan am 9. Juni 2022, dass die Transportroute „auf der Anerkennung der Souveränität des armenischen Territoriums basiert“ (https://www.azatutyun.am/a/31890763.html) . Eine ähnliche Erklärung wurde bereits am 12. November 2021 abgegeben:
„Gerade vor dem Hintergrund der Medienberichte zur Situation um den sogenannten „Zangezur-Korridor“ ist es wichtig, dass sich alle Teilnehmer der trilateralen Arbeitsgruppe darauf verständigt haben, dass alle freigegebenen und neu geschaffenen Verkehrswege auf der Grundlage von Respekt vor der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten, die durchquert werden, basieren“.
(https://en.armradio.am/…/sovereignty-and-territorial…/ )
Der von türkisch-aserischer Seite gewünschte Korridor solle über die Gemeinde Meghri verlaufen und würde die Landverbindung Armeniens zu Iran abtrennen. Meghri ist in der trilateralen Erklärung jedoch nicht genannt. Aus geopolitischer Sicht wäre diese Blockade sowohl für Armenien als auch für den Iran als alternativem Gaslieferanten für Europa fatal. Der oberste iranische Führer Ayatollah Ali Khamenei warnte vor Versuchen, die Grenze Armeniens zu seinem Land zu „blockieren“, als er sich am 19. Juli 2022 mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Teheran traf (https://www.azatutyun.am/a/31950738.html ).
Khamenei teilte auch dem russischen Präsidenten Waldimir Putin mit, dass der Iran die Schließung seiner Grenze zu Armenien nicht tolerieren werde (https://www.iranintl.com/en/202207193562).
Mehr als einen Monat vor der aserbaidschanischen Aggression teilte der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan auf der Regierungssitzung am 4. August 2022 mit, dass Armenien bereit sei eine Verbindung zwischen den westlichen Regionen Aserbaidschans und Nachitschewan herzustellen, aber Aserbaidschan diese Gelegenheit nicht nutze. Der armenische Nationale Sicherheitsdienst legte am 16. August 2022 einen Gesetzentwurf vor, der die armenische Regierung ermächtigen würde, drei alternative Kontrollpunkte entlang der Grenze zu Aserbaidschan einzurichten. (https://www.civilnet.am/…/armenia-to-consider-setting…/) .
Gemäß dem Projekt würden neue Grenzkontrollpunkte auf den Autobahnen von der Sotk-Gemeinde im Gegharkunik-Marz nach Karvachar (Kelbajar), von der Yeraskh-Gemeinde im Ararat-Marz nach Sadarak und von der Karahunj-Gemeinde im Syunik-Marz in die Ghubatlu-Region eingerichtet. (https://www.e-draft.am/projects/4661/about) .
Die aserbaidschanische Aggression auf armenischen Territorium und die zahlreichen aserbaidschanischen Kriegsverbrechen haben diese Pläne jedoch in den Hintergrund gerückt.