Brief an die Präsidentin der Europäischen Kommission, Frau Ursula von der Leyen

Sehr geehrte Frau Präsidentin,

wir, die Vereinigungen europäischer Rechtsanwälte und Juristen armenischer Herkunft aus Deutschland, den Niederlanden und Frankreich, wenden uns hiermit an Sie, um den Ernst der Lage für die Republik Armenien zu unterstreichen, die sich durch die erneute Aggression Aserbaidschans einer unmittelbaren existenziellen Bedrohung ausgesetzt sieht.

In der Nacht vom 12. auf den 13. September beschoss die Republik Aserbaidschan mehrere Stellungen an den östlichen und südöstlichen Grenzen Armeniens und verstieß damit gegen das in Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta verankerte Grundprinzip der Nichtanwendung von Gewalt. Der rechtswidrige Angriffskrieg Aserbaidschans, diesmal an der international anerkannten Grenze Armeniens, stellt eine neue Schwelle in Aserbaidschans Eskalations- und Expansionsbestrebungen dar, während die Armenier noch immer um die 4500 Opfer des Berg- Karabach-Krieges von 2020 trauern.

Um es mit den Worten des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zu sagen: "Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijev hat erneut eine rote Linie überschritten, indem er Armenien auf seinem souveränen Boden angriff und damit seine territoriale Integrität verletzte.” Diese groß angelegte Aggression, die Aserbaidschan vor den Toren Europas unternahm, verletzt das souveräne und rechtlich anerkannte Territorium eines Staates. Sie forderte den Tod von mehreren hundert Menschen und hat die Vertreibung von etwa 8000 Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und Menschen mit Behinderungen, zur Folge. Es handelt sich zweifellos um die Invasion einer souveränen Nation unter Verletzung zahlreicher eklatant wichtiger Normen des Völkerrechts.

Wir erinnern Sie daran, dass das bewusste Schweigen der Europäischen Union zu dieser Situation in völligem Widerspruch zu den humanistischen Werten steht, die sie zu verteidigen vorgibt.

Wir fordern Sie auf, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die expansionistische und die volksvernichtende Politik Aserbaidschans anzuprangern und Sanktionen gegen das Regime von Präsident Alijew zu verhängen, um einen weiteren Völkermord am armenischen Volk zu verhindern.

Die derzeitige Handhabung der Europäischen Union im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sollte die regelkonforme Vorgehenswiese sein, ein autokratisch regiertes Land wirtschaftlich zu zwingen, sich nicht militärisch gegen eine Demokratie zu wenden.

Eben diese politische Kohärenz, das Recht der Europäischen Union und ganz einfach die Moral verlangen, dass Sie gegenüber Aserbaidschan, trotz der wirtschaftlichen Interessen Europas, eine vergleichbare Härte walten lassen.

Die Europäische Union schien auf einem sicheren Fundament, auf Grundsätzen und Zielen aufgebaut zu sein, darunter die "Förderung des Friedens", die "strikte Einhaltung des Völkerrechts" und der "Beitrag zur Solidarität und zur gegenseitigen Achtung unter den Völkern, zum freien und fairen Handel, zur Beseitigung der Armut und zum Schutz der Menschenrechte", wie sie im Vertrag von Lissabon und in der EU-Grundrechtscharta verankert sind. In Ihrer Rede zur Lage der Union vom 14. September 2022, in der Sie den derzeitigen Krieg in der Ukraine ansprachen, erklärten Sie: "Dies ist nicht nur ein Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat. Es ist ein Krieg um unsere Energie, ein Krieg um unsere Wirtschaft, ein Krieg um unsere Werte und ein Krieg um unsere Zukunft. Hier geht es um Autokratie gegen Demokratie. Und ich stehe hier mit der Überzeugung, dass Putin mit Mut und Solidarität scheitern und Europa siegen wird."

Sind Menschenleben in Armenien in den Augen der Internationalen Gemeinschaft weniger wert als in der Ukraine?

Dank der Ächtung durch Präsident Wladimir Putin ist Präsident Alijew heute ein gefragter Mann. Tatsächlich haben Sie, Frau Präsidentin, im Juli letzten Jahres mit Herrn Alijew eine Absichtserklärung zur Erhöhung der Gaslieferungen geschlossen. Obwohl die Verurteilung eines Autokraten und die Verherrlichung eines anderen - der sich für dieselben Verbrechen verantwortlich macht, die dem ersten unterstellt werden - eine schreckliche Politik der doppelten Standards widerspiegelt, sei hier auch auf den Entwurf der Europäischen Lieferkettensorgfaltspflichtendirektive zu verweisen (KOM/2022/71 endgültig). Nach dieser Richtlinie ist es Unternehmen untersagt, Geschäfte mit Lieferanten oder Subunternehmern zu machen, die gegen Menschen- oder Umweltrechte verstoßen. Mit diesem Deal bringen Sie demnach alle Europäischen Staaten in die Situation, gegen eben dieses Kardinalprinzip zu verstoßen.

Das Ausbleiben einer Reaktion und einer entschiedenen öffentlichen Verurteilung der aserbaidschanischen Invasion, schlimmer noch, das ohrenbetäubende Schweigen der Staaten und staatlichen Institutionen, insbesondere seitens der Europäischen Union, wäre ein Zeichen dafür, dass Konflikte nun wieder hauptsächlich durch die Kraft des Schwertes und nicht durch die Macht des Rechts gelöst werden.

Nur der Besuch von Nancy Pelosi, der Vorsitzenden des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten von Amerika, in Armenien stellte eine Chance für diese kleine kaukasische Demokratie dar, ausländische Unterstützung zu finden, um das Ungleichgewicht der Kräfte zu korrigieren, indem der Angriffskrieg Aserbaidschans gegen den souveränen Staat Armenien als solcher

eingestuft wird. Braucht es eine solche Intervention von außen, um die EU davon zu überzeugen, ihre Politik an die neuen Realitäten anzupassen?

Wenn die Welt dieser aserbaidschanischen Aggression auf armenischem Territorium einfach nur zusieht, ohne wirksam und angemessen zu reagieren, werden die immer wiederkehrenden Worte einflussreicher türkischer Politiker, Armenien historisch und geografisch vollständig auslöschen zu wollen, Realität werden.

Das Überleben Armeniens und seines mehrtausendjährigen Volkes ist nicht nur eine geopolitische oder strategische Notwendigkeit, sondern auch ein moralischer Imperativ! Diese Verantwortung lastet heute auf den Schultern der befreundeten Nationen, also auch auf den Ihren als Präsidentin der Europäischen Kommission.

Aus den gemachten Erläuterungen fordern wir Sie auf, Frau Präsidentin, im Namen der Europäischen Union den Angriffskrieg der Republik Aserbaidschan gegen die Republik Armenien und die Politik der ethnischen Säuberung öffentlichen und entschieden zu verurteilen und Maßnahmen zu ergreifen, um ein derartig völkerrechtswidriges Verhalten der Republik Aserbaidschan zu unterbinden und scharf zu sanktionieren.

Da es nicht nur den Angriffskrieg gegen die Republik Armenien gab, sondern im Jahr 2020 auch in Bezug auf Berg-Karabach, und mit berechtigtem Hinweis auf die Maßnahmen, die die Europäische Union zugunsten der Ukraine ergriffen hat, bitten wir Sie:

- die Republik Aserbaidschan aufzufordern, ihre Truppen unverzüglich auf die Positionen zurückzuziehen, die sie gemäß dem Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020, besetzt haben;

- die Verhängung persönlicher Sanktionen durch die Europäische Union gegen die zivilen und militärischen Persönlichkeiten Aserbaidschans vorzubereiten, die für diese neue illegal bewaffnete Aggression oder für Tatsachen, die Kriegsverbrechen darstellen könnten, die seit dem 27. September 2020 begangen wurden, verantwortlich sind;

- massive wirtschaftliche und militärische Hilfe für Armenien vorzubereiten;

- dringend Ihre Unterstützung für die Souveränität Armeniens und die Unverletzlichkeit seiner Grenzen zu bekräftigen.

Andernfalls machen Sie sich , Frau Präsidentin, im Namen der Europäischen Union, ebenfalls des Angriffskriegs der Republik Aserbaidschan aber vor allem der damit einhergenden Fortsetzung der Politik der ethnischen Säuberungen und des Völkermords am armenischen Volk mitschuldig.

Deutsch-Armenische Juristenvereinigung - DEARJV

Niederländisch-Armenische Juristenvereinigung – ANAJA

Französische Vereinigung armenischer Rechtsanwälte und Juristen - AFAJA