Neue Gerichtsurteile in Deutschland zum Status der aus Berg-Karabach vertriebenen Armenier
Mit zwei Urteilen vom 16.09.2024 (1 K 1819/23.KS.A und 1 K 1820/23.KS.A) entschied das VG Kassel jeweils, dass die ehemaligen Bewohner Berg-Karabachs, die einen armenischen Reisepass mit dem Ausstellungcode 070 besaßen und infolge der Vertreibung aus Bergkarabach geflohen sind, nicht als Staatsangehörige Armeniens zu behandeln sind:
„Als ehemalige Einwohnerin der Region Bergkarabach ist die Klägerin zwar ethnische Armenierin, jedoch nicht armenische Staatsangehörige. Zwar haben die Einwohner Bergkarabachs in der Vergangenheit stets armenische Pässe ausgestellt bekommen, dies jedoch nach Angaben der armenischen Regierung lediglich zur Ermöglichung von Auslandsreisen und ohne jede Anerkennung der Staatsangehörigkeit (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Armenien, Stand: Dezember 2023, S. 12). Die Ausstellung der Reisepässe unter diesem Vorbehalt wurde durch die Kennzeichnung der Dokumente mit der Kennziffer „070“ zum Ausdruck gebracht, die auf Pässen formell staatsangehöriger Armenier nicht zu finden ist (Zeitungsartikel „eurasia-net“ vom 30. Oktober 2023: Armenia to offer refugee status to displaced Karabakhis). Erst im Zuge der weitestgehenden Vertreibung der ethnischen Armenier aus Bergkarabach und deren Flucht nach Armenien wurde die breite Öffentlichkeit darauf aufmerksam, dass dieser Gruppe keine staatsbürgerlichen Rechte in Armenien zuerkannt würden. Vielmehr wurde ihnen nach der Flucht auf unumstrittenes armenisches Hoheitsgebiet seitens der armenischen Regierung angeboten, sich um den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit zu bewerben. Die Staatsangehörigkeit kann jedoch erst dann das asylrechtliche Herkunftsland bestimmen, wenn der Betroffene von einer Option, die Staatsangehörigkeit anzunehmen, tatsächlich Gebrauch gemacht hat (BeckOK Mi-gR/Wittmann, 18. Ed. 15.1.2024, AsylG § 3 Rn. 21.2).“ VG Kassel, Urteil vom 16.09.2024 (1 K 1820/23.KS.A).
Ferner stellte das Gericht fest, dass ethnische Armenier in den von Aserbaidschan kontrollierten Gebieten kontinuierlich einer systematischen Diskriminierung ausgesetzt sind, die nach Angaben des Gerichts in Aserbaidschan eine jahrzehntelange Tradition hat:
„Unabhängig vom Fortbestand einer Gruppenverfolgung, welcher hier dahinstehen kann, begründet nach der Auffassung des Einzelrichters bereits die Verweigerung der Ausstellung von Personenstands- und Reisedokumenten an ethnische Armenier aserbaidschanischer Herkunft eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 2 AsylG. Dass diese Verweigerung tatsächlich stattfindet und auch die Kläger betrifft, steht zum Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit fest. Schließlich blickt die Diskriminierung der Armenier in Aserbaidschan auf eine jahrzehntelange Tradition zurück und ist vielfach dokumentiert. Es ist demgegenüber nicht ersichtlich, weshalb im Falle der Kläger andersherum eine Ausnahme zu ihren Gunsten eintreten sollte.“
VG Kassel, Urteil vom 16.09.2024 (1 K 1819/23.KS.A).
Das Gericht verpflichtete das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen.
Es wird zu beobachten sein, wie andere Verwaltungsgerichte die Rechtslage bewerten werden.
https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE240001210