
Interview mit Rechtsanwalt Christian Mkhitaryan zur Situation der Geflüchteten aus Berg-Karabach auf Hraparak.am
Am 8. November 2024 gab Rechtsanwalt Christian Mkhitaryan einem armenischen Magazin Hraparak.am ein Interview zur Problematik der Geflüchteten aus Berg-Karabach. Hier ist die übersetzte Version.
Das Verwaltungsgericht in Kassel, Deutschland, hat eine richtungsweisende Entscheidung getroffen: Bürger aus Arzach (Bergkarabach) werden als staatenlose Person anerkannt und dürfen nicht nach Arzach zurückkehren, da ihnen durch Aserbaidschan Verfolgung droht.
Wir haben über diese wegweisende Entscheidung mit dem Anwalt C. Mkhitaryan gesprochen – Mitglied im Vorstand der Deutsch-Armenischen Juristenvereinigung –, der in diesem Fall die Vertretung übernommen hat, als das Verfahren bereits in der Endphase war. Es geht um eine große Familie aus Arzach – Ehepaar, Kinder und Großmutter – deren Fälle zwar getrennt, aber am selben Tag zur selben Zeit verhandelt wurden, da sie als eine gemeinsame Schicksalsgemeinschaft betrachtet wurden.
– Wie ist es Ihnen gelungen, das Gericht von dieser Entscheidung zu überzeugen?
– Der Richter hat gleich zu Beginn erklärt, dass er auf Grundlage der von mir vorgelegten Materialien selbst zu der Auffassung gekommen sei, dass es sich bei diesen Personen um Staatenlose handelt. Im Urteil steht: „Als ehemalige Einwohner der Region Bergkarabach sind die Kläger zwar ethnische Armenier, jedoch nicht armenische Staatsangehörige. Zwar haben die Einwohner Bergkarabachs in der Vergangenheit stets armenische Pässe ausgestellt bekommen, dies jedoch nach Angaben der armenischen Regierung lediglich zur Ermöglichung von Auslandsreisen.“ Wenn sie weder armenische noch aserbaidschanische Staatsbürger sind, können sie als staatenlose Personen gelten. Die Praxis im Verwaltungsrecht besagt, dass für die Feststellung der Staatenlosigkeit kein absoluter Nachweis erforderlich ist – verschiedene Umstände können gemeinsam zu diesem Schluss führen.
– Welche Rechte haben staatenlose Personen in Deutschland?
– Nach Feststellung ihres Status wird ihnen ein Aufenthaltsrecht gewährt, wodurch sie die Rechte anerkannter Flüchtlinge genießen. Staatenlose können auch ein deutsches Reisedokument erhalten, mit dem sie – wenn sie möchten – sogar nach Armenien reisen dürfen. Nach Auffassung des Gerichts ist der „Heimatstaat“ der Vertriebenen rechtlich gesehen nicht Armenien, sondern Arzach, welches unter der tatsächlichen Kontrolle Aserbaidschans steht.
– Könnte dieses Urteil dazu führen, dass viele Arzach-Armenier Armenien verlassen und in Europa Asyl beantragen?
– Das ist eine berechtigte Frage, aber diese Sorge besteht nicht. Warum? Weil dieser Status nur Personen gewährt wird, die nach der Flucht aus ihrer Heimat weniger als ein Jahr in Armenien gelebt haben. Wer beispielsweise im September geflohen und bis heute in Armenien geblieben ist, wird es schwer haben, diesen Status zu bekommen. § 3 des Asylgesetzes besagt, dass jenes Land zuständig ist, in dem sich die Person zuletzt dauerhaft niedergelassen hat. Der Begriff des „vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts“ spielt eine zentrale Rolle – international und auch nach deutscher Rechtsprechung wird ein Zeitraum von einem Jahr als Maßstab genommen. Wer also über ein Jahr in einem Land lebt –ohne dessen Staatsbürger zu sein – muss sich darauf verweisen lassen, dass dieses Land rechtlich als dessen „Heimat“ betrachtet wird. In solchen Fällen prüft das Gericht nicht mehr, ob eine Rückkehr nach Arzach oder Aserbaidschan möglich ist, sondern ob eine Rückkehr nach Armenien zumutbar ist. Und wenn Armenien als Heimat gilt, sinken die Chancen auf Schutz erheblich – praktisch gegen null –, denn die Gerichte gehen mehrheitlich davon aus, dass in Armenien keine Verfolgung droht.
– Das deutsche Gericht hat festgestellt, dass eine Rückkehr nach Arzach ausgeschlossen ist, da Aserbaidschan die betroffenen Personen verfolgen würde. Kann man dieses Urteil als Beleg für die anti-armenische, faschistische Politik Aserbaidschans nutzen?
– Ja, man kann dieses Urteil in diesem Kontext betrachten – sei es in den armenisch-aserbaidschanischen Verhandlungen oder bei internationalen Gerichtsverfahren. Es eröffnet aber auch eine Perspektive für eine mögliche Rückkehr der vertriebenen Personen nach Arzach. Denn das Gericht hat festgestellt, dass deren Heimat nicht Armenien, sondern Arzach ist. Und damit schafft es die theoretische Grundlage, dass diese Menschen eines Tages in ihre Heimat zurückkehren müssen – nicht nach Armenien, sondern nach Arzach. Aus meiner Sicht ist genau das der entscheidende Punkt: Dass Aserbaidschan als faschistischer oder autoritärer Staat eingestuft wird, ist hier schriftlich dokumentiert – vergleichbare Urteile gibt es in Deutschland kaum. Diese Menschen können also fortwährend geltend machen, dass ihnen der Zugang zu ihrer Heimat verwehrt bleibt. Solange dieses Hindernis besteht, gilt Aserbaidschan als ein Staat, der ethnische Minderheiten unterdrückt. Das Gericht hat außerdem festgehalten, dass die Diskriminierung von Armeniern durch Aserbaidschan eine jahrzehntelange Tradition hat – auch das ist von großer Bedeutung.
– Was können wir tun, damit diese Entscheidung als Präzedenzfall etabliert wird – sollen mehr Arzach-Armenier europäische Gerichte anrufen?
– Zuerst müssen wir klären, wer mit „wir“ gemeint ist – die Republik Armenien, ihre Vertreter, oder die Vertriebenen selbst? Aus Sicht der Vertriebenen sollten alle, die sich in Europa aufhalten, ein entsprechendes Asylverfahren durchlaufen. Im Kontext des EU-Rechts gibt es harmonisierte Regelungen – fast alle EU-Staaten haben ähnliche Asylverfahren, weshalb ähnliche Entscheidungen zu erwarten sind. Doch bis dahin müssen erst Präzedenzfälle geschaffen werden, was ich derzeit in Deutschland versuche. Ich führe Verfahren vor mindestens drei verschiedenen Verwaltungsgerichten – neben diesem Fall in Würzburg, Trier und Gießen – mit Personen, die denselben Status beanspruchen. Wenn wir auch dort erfolgreich sind, kann man sagen, dass die Situation für bereits in Deutschland befindliche Personen gelöst ist. Für neue Ankömmlinge hingegen wird es sehr schwierig. Bislang war unklar, ob Arzach-Bewohner automatisch als armenische Staatsbürger gelten. Zumindest bis 2020 bestand darüber kein Konsens. Mit dem Beschluss der armenischen Regierung vom 26. Oktober 2023 wurde den Arzach-Bewohnern offiziell der Flüchtlingsstatus zuerkannt – und damit wurde ihre armenische Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Denn Flüchtlingsstatus und Staatsbürgerschaft schließen sich gegenseitig aus: Man kann nicht gleichzeitig Bürger und Flüchtling eines Landes sein. Das heißt jedoch nicht, dass sie keine armenischen Staatsbürger werden können – im Gegenteil: Sie haben einen vereinfachten Zugang zur Staatsbürgerschaft, schneller als Personen anderer Nationalitäten.
– Wenn sie die armenische Staatsbürgerschaft annehmen, wird dann eine Rückkehr nach Arzach möglich sein?
– Wenn alle Arzach-Armenier armenische Staatsbürger werden, wird die Verbindung zu Arzach meiner Meinung nach gekappt. Wenn sie aber als Staatenlose und Vertriebene anerkannt werden, bleibt die Verbindung bestehen und die Rückkehr bleibt als Option auf der Tagesordnung. Aus rechtlicher und politischer Sicht wäre es also nicht der beste Schritt, wenn alle armenische Staatsbürger werden. Natürlich sind sie ethnische Armenier, unsere Landsleute – aber eine Gruppe der Vertriebenen sollte diesen Status behalten, damit man sich auf sie berufen und das Thema aufrechterhalten kann.
– Heißt das, dass diejenigen, die eines Tages in ihre Heimat zurückkehren möchten, auf einen armenischen Pass verzichten sollten?
– Ich möchte niemandem Ratschläge geben – dazu habe ich kein Recht… Aber wenn wir strategisch denken, dann eröffnet dieser Weg mehr Perspektiven. Denn sobald sie armenische Staatsbürger werden, ist – salopp gesagt – „das Thema erledigt“.