Bekanntlich betrifft der in der Region Berg-Karabach seit dem 27. September 2020 herrschende Krieg einen jahrzehntelangen Konflikt zwischen Armenien, Artsakh und Aserbaidschan. Immer wieder gab es militärische Auseinandersetzungen; zuletzt zwischen dem 2. und 5. April 2016. Doch auch auf juristischer Ebene gab es Streitigkeiten zwischen den Parteien. Mit diesem Beitrag sollen zwei Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 16. Juni 2016 dargestellt werden, die sich in einem Fall gegen Armenien (Application no. 13216/05) und im anderen Fall gegen Aserbaidschan (Application no. 40167/06) richteten.

CHIRAGOV AND OTHERS v. ARMENIA (Application no. 13216/05)

Im spiegelbildlichen Verfahren CHIRAGOV AND OTHERS v. ARMENIA haben gleich mehrere Antragsteller ein Verfahren gegen Armenien angestrengt. Gegenstand des Verfahrens waren Schadensersatzansprüche wegen der Flucht aus ihren Häusern im Dorf Lachin in Aserbaidschan.

Im Rahmen der oben genannten Gefechte der 90er Jahre eroberten Armenien und Berg-Karabach sieben umliegende aserbaidschanische Gebiete, darunter auch das Gebiet Lachin. Der Krieg hatte laut Human Rights Watch die Flucht von 300.000 Einwohner Lachins zur Folge, wovon die meisten – auch die Antragsteller – kurdischer Herkunft waren. Die Antragsteller flüchteten im Mai 1992 nach Baku und konnten hiernach nicht mehr zurück zu ihren Häusern ziehen. Auch in diesem Verfahren stellte der EGMR am 16. Juni 2015 eine Verletzung von Artikel 1 Protokoll 1 zur EMRK, Art. 8 EMRK und Art. 13 EMRK durch Armenien fest und verurteile Armenien am 12. Dezember 2017 zur Zahlung von jeweils EUR 5.000,00 und GBP 28.642,87 an die Antragsteller.

Auch die Anträge der Antragsteller des spiegelbildlichen Verfahrens waren zulässig und begründet.

Armenien war daran gebunden, die Rechte der Antragsteller zu achten. Daran ändert die Tatsache, dass sich der Sachverhalt auf etwaigem aserbaidschanischen Territorium abspielte. Denn der Begriff der Hoheitsgewalt im Sinne des Art. 1 EMRK reicht nicht etwa nur so weit, wie die territorialen Grenzen eines Staates verlaufen. Vielmehr können Staaten auch außerhalb ihrer territorialen Grenzen an die EMRK gebunden sein (EGMR, Chiragov a. Others v. Armenia, Entscheidung vom 16. Juni 2015, Appl. no. 13216/05, Rn. 167). Dies insbesondere dann, wenn dieser Staat einen Teilbereich eines anderen Staates – in legaler oder illegaler Weise – militärisch besetzt und kontrolliert, sogenannte effective control (EGMR, Catan and Others v. the Republic of Moldova and Russia, Entscheidung vom 19. Oktober 2012, Appl. nos. 43370/04 und 2 weitere, Rn. 106). Ob eine solche Kontrolle vorliegt, ist insbesondere nach der Art und dem Maß des militärischen Einsatzes zu bestimmen; aber auch ist zu berücksichtigen, ob das Gebiet wirtschaftlich und politisch kontrolliert wird (EGMR, Chiragov a. Others v. Armenia, Entscheidung vom 16. Juni 2015, Rn. 169). Das Gericht befasste sich mit all diesen Fragen (EGMR, Chiragov a. Others v. Armenia, Entscheidung vom 16. Juni 2015, Rn. 172-185) und kam letztlich zum Ergebnis, dass Armenien das Gebiet Berg-Karabach und die umliegenden Gebiete kontrollierte (EGMR, Chiragov a. Others v. Armenia, Entscheidung vom 16. Juni 2015, Rn. 186).

Auch in diesem Verfahren stellte der EGMR eine dauernde Verletzung des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Protokoll 1 zur EMRK fest. Denn auch Armenien hatte keine hinreichenden Maßnahmen zum Schutz des Eigentums der Antragsteller ergriffen (EGMR, Chiragov a. Others v. Armenia, Entscheidung vom 16. Juni 2015, Rn. 192-201). Aus denselben Gründen stellte der EGMR auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 13 EMRK fest (EGMR, Chiragov a. Others v. Armenia, Entscheidung vom 16. Juni 2015, Rn. 207,208, 214,215).