Ein erster, vorläufiger Kommentar von Otto Luchterhandt

Professor Dr. Otto Luchterhandt

English, German, Russian and French versions are available below:

Die Erklärung ist am 9. November 2020 spätabends vom Präsidenten der Aserbaidschanischen Republik, vom Premierminister der Republik Armenien und vom Präsidenten der Russischen Föderation unterzeichnet worden. Das geschah zeitgleich an den jeweiligen Amtssitzen, und zwar von Seiten der Präsidenten Aliev und Putin im Wege einer Videoübertragung, von Seiten des armenischen Premierministers Paschinjan außerhalb der Bildübertragung.

Die Erklärung besteht zwar nur aus neun (9) Punkten, hat für Berg-Karabach, seine armenische Bevölkerung und auch für die Republik Armenien schwerwiegende, ja schicksalhafte Bedeutung und Folgen.

Der Inhalt der Erklärung ist zwar sehr unterschiedlich, erstreckt sich aber auf die ganze Breite des Karabach-Konfliktes. 

Auslöser und entscheidendes Motiv für die Erklärung ist der Wunsch, den am 27. September 2020 gegen Berg-Karabach begonnenen und inzwischen in die 7.Woche gegangenen Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien durch einen sofortigen Waffenstillstand zu beenden. Dementsprechend ordnet Punkt 1 der Erklärung die vollständige Einstellung des Feuers und aller militärischen Aktionen „in der Zone des Berg-Karabach-Konflikts“ um Mitternacht vom 9. auf den 10. November 2020 an. Zugleich damit ist die Erklärung in Kraft gesetzt worden.

Die weiteren Bestimmungen der Erklärung hängen teilweise mit dem Krieg zusammen, nämlich die Rückkehr von Binnenflüchtlingen und sonstigen Flüchtlingen in ihre Wohnsitze, der Austausch von Gefangenen und von gefallenen Soldaten (Punkte 7-9), sie regeln darüber hinaus aber auch territoriale Fragen der um das einstige Autonome Gebiet von Berg-Karabach herumliegenden Verwaltungsbezirke, soweit sie von den aserbaidschanischen Truppen zu diesem Zeitpunkt noch nicht zurückerobert worden waren, nämlich die Rückgabe der Rayone Agdam, Latschin und Kelbadschar an Aserbaidschan (Punkte 2 und 6), sowie die Behandlung der Straßenverbindungen zwischen Armenien und Karabach („Latschin-Korridor“) einerseits (Punkte 3 und 6) und zwischen Aserbaidschan und Nachitčevan durch die armenische Provinz Sjunik andererseits (Punkt 9).

Herausragende Bedeutung haben die Bestimmungen über die Errichtung einer bewaffneten Peacekeeping-Mission Russlands und ihre Dislozierung in dem Teil Berg-Karabachs, der am 9.11.2020 (noch) nicht von aserbaidschanischen Truppen eingenommen worden war (Punkte 3-6).

  • Zur Rechtsnatur der „Erklärung“

Aus völkerrechtlicher Sicht stellt sich als Erstes die Frage, welche Rechtsnatur die Erklärung hat. Es gibt drei mögliche Antworten: 1. Die Erklärung ist kein völkerrechtlicher Vertrag, sondern eine juristisch nicht verbindliche, politische Willens- und Absichtserklärung der drei Staatschefs. 2. Die Erklärung ist ein völkerrechtlicher Vertrag, und zwar ein dreiseitiger Vertrag zwischen Aserbaidschan, Armenien und Russland. 3. Die Erklärung ist ein zweiseitiger Vertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan unter Einbeziehung Russlands als begünstigter „Drittstaat“.

Zu 1: Gegen die Qualifizierung als Vertrag spricht, dass die Staatschefs einleitend nicht davon sprechen, dass sie die Waffenruhe vereinbart, sondern nur „verkündet“ haben (Punkt 1). Auch die folgenden Bestimmungen sind nicht als Verpflichtungen formuliert, sondern wie Feststellungen vorgesehener Maßnahmen. Mit diesem Stil befindet sich die „Erklärung“ eher in der Nähe eines gemeinsamen politischen „Manifestes“, „Memorandums“ oder “Protokolls“. Möglicherweise haben die Staatschefs mit dem Begriff der „Erklärung“ bewusst den Eindruck eines völkerrechtlichen Vertrages vermeiden wollen.

Demgegenüber ist jedoch Folgendes zu bedenken: Gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. a der Wiener Vertragsrechtskonvention vom 23.5.1969 kann von der „Bezeichnung“ nicht auf die Rechtsnatur einer Übereinkunft geschlossen werden. Es kommt letztlich auf den Inhalt dessen an, was die Akteure tatsächlich gewollt haben. Die „Erklärung“ stellt eine Punktation dar, die kurz und knapp als zu treffende Maßnahmen formuliert sind, auf die sich die drei Staatschefs geeinigt haben. Man kann die Punkte als Aufgaben qualifizieren, deren Verwirklichung sie für besonders wichtig, vordringlich und zwingend zu realisieren gehalten und deswegen aufgelistet worden ist. In dieser sprachlichen Einkleidung steckt ein Moment der Verpflichtung, nämlich die Punkt für Punkt formulierten Maßnahmen auch tatsächlich auszuführen. Das deutet auf einen vertraglichen Rechtsbindungswillen hin. Dafür, dass die Maßnahmen Vertragscharakter haben sollen, spricht ferner Punkt 5, wo unter Bezugnahme auf alle Punkte von der Erfüllung von „Vereinbarungen“ (dogovorennostej) die Rede ist, ein Wort, das von „dogovor“, dem Rechtsbegriff für „Vertrag“, abgeleitet ist. Ebenfalls im Sprachstil völkerrechtlicher Verträge bezeichnet Punkt 1 Aserbaidschan und Armenien als diejenigen „Seiten“ (Стороны), die die vereinbarten Maßnahmen auszuführen haben.

Bedenkt man schließlich im Sinne der für die Auslegung völkerrechtlicher Dokumente maßgebenden objektiven Sicht die schicksalhafte Bedeutung der Abmachungen für Aserbaidschan und Armenien, ihr außerordentliches politisches Gewicht für beide Nationen und ganz besonders für die Republik Berg-Karabach/Arcach, dann besteht kein Zweifel, dass der Inhalt der dreiseitigen Erklärung nach dem Willen der drei Staatschefs die verbindliche Kraft eines völkerrechtlichen Vertrages haben soll.

Zu klären bleibt, ob es sich um einen dreiseitigen oder um einen zweiseitigen Vertrag handelt.

Für die Dreiseitigkeit des Vertrages spricht, dass im Unterschied zu den im Oktober von Russland vermittelten bilateralen Abkommen über Feuerpausen nun auch Präsident Putin die Erklärung mitunterzeichnet und damit den Inhalt auch für Russland als verbindlich und maßgebend anerkannt hat. Auch die Tatsache, dass fast die Hälfte der Bestimmungen des Vertrages dem von Russland zu leitenden, Frieden schaffenden Kontingent gewidmet ist (Punkte 3 bis 6), kann als Indiz für Russland als Vertragspartei gewertet werden.

Der Qualifizierung Russlands als Vertragspartei steht jedoch definitiv entgegen, dass gemäß Punkt 4 nur Armenien und Aserbaidschan als „Seiten“ berechtigt sind, das Abkommen in Bezug auf Russlands Präsenz in Berg-Karabach nach fünf Jahren zu kündigen, also Russlands Mandat für das Frieden schaffende Kontingent zu beenden. Wäre Russland wie Armenien und Aserbaidschan ein förmlicher, gleichberechtigter Vertragspartner, dann müsste auch ihm das Kündigungsrecht eingeräumt sein. Das aber ist nicht der Fall.

Es ist daher folgerichtig, dass gleich in Punkt 1 nur Aserbaidschan und Armenien als „Seiten“, d. h. als Vertragspartner, bezeichnet werden. Als solchen weist ihnen der Vertrag einige verbindlich zu erfüllende Aufgaben zu (Punkte 1, 6 und 9).

Als Ergebnis der Analyse der dreiseitigen Erklärung ist festzustellen, dass es nicht nur ein politisches, sondern auch ein juristisches Dokument ist und dass deren juristischer Inhalt ein zweiseitiger völkerrechtlicher Vertrag ist. Er wird im Weiteren Waffenstillstandsvertrag genannt.

Auch wenn die Russische Föderation nicht den Status einer Vertragspartei besitzt, steht sie gleichwohl nicht außerhalb des Vertrages. Sie hat vielmehr den Status eines „Drittstaates“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 lit. h) der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969. Gemäß Art. 36 der Konvention kann ein anderer Staat durch Vertrag nämlich berechtigt werden, wenn die Vertragsparteien vereinbaren, ihm ein Recht einzuräumen, und dieser sogenannte Drittstaat damit einverstanden ist.

So liegt der Fall hier, denn der zweiseitige Vertrag ermächtigt und berechtigt die Russische Föderation dazu, ein Peacekeeping-Zentrum in Berg-Karabach zu errichten, ein bewaffnetes Peacekeeping-Kontingent zu unterhalten und dieses Mandat in Fünf-Jahresperioden wahrzunehmen. Russland ist also Drittstaat. Es hat sich mit diesem Status auch einverstanden erklärt, denn das Einverständnis der Russischen Föderation hat Präsident Vladimir Putin mit seiner Unterschrift unter die dreiseitige Erklärung bekundet.

  • Zur Frage des Status von Berg-Karabach/Arcach

Der Waffenstillstandsvertrag macht zu dem Status der Republik Berg-Karabach/ Arcach keine Aussage. Berg-Karabach kommt in dem Vertrag nur als Objekt vor. In Punkt 1 ist von der „Zone des Berg-Karabach-Konflikts“ die Rede, in Punkt 3 von „der Kontaktlinie in Berg-Karabach“, in Punkt 6 von der „Verbindung von Berg-Karabach mit Armenien“, und Punkt 7 verspricht die Rückkehr von Flüchtlingen in „das Territorium von Berg-Karabach und in die angrenzenden Rayone“.

In den Punkten 3, 6 und 7 wird der Begriff Berg-Karabach nicht in einem geographischen Sinne verwendet, sondern unausgesprochen oder konkludent im Sinne eines Verwaltungsgebietes, d. h. so, wie Berg-Karabach seit seiner Errichtung als Autonomes Gebiet 1923/1924 („NKAO“) immer bezeichnet worden ist. Eindeutig in diesem administrativen Sinne ist Berg-Karabach in Punkt 7 gemeint, denn die an „Berg-Karabach angrenzenden Rayone“, also Agdam, Fizuli, Dschebrail, Zangelan, Kubadli, Latschin und Kelbadschar, grenzen an das NKAO-Gebiet.

Der Waffenstillstandsvertrag hat die Grenzen des NKAO-Gebiets von Berg-Karabach nicht verändert. Zwar sind die aserbaidschanischen Streitkräfte bis zur Stadt Shushi/Shusha vorgedrungen und haben damit den Süden des NKAO-Gebietes bis zur Region von Hadrut besetzt, aber durch dieses rein militärische Faktum sind die administrativen Grenzen von Berg-Karabach nicht verändert worden. Das ergibt sich schon aus Punkt 1 des Waffenstillstandsvertrages, denn er regelt und bestimmt keine Grenzziehung, sondern ordnet lediglich an, dass die armenischen und die aserbaidschanischen Truppen dort stehen bleiben, wo sie bei dem Inkrafttreten des Waffenstillstandsvertrages ´zufällig` stehen. Die „von ihnen eingenommenen Positionen“  im Sinne von Punkt 1 des Waffenstillstandsvertrages bedeuten keine Änderung der administrativen Grenzen Berg-Karabachs, sondern markieren die geographischen Orte, an dem sich die Truppen am 10. November 2020 Null Uhr befanden.

Das gleiche gilt für die Bestimmung in Punkt 3, dass die Peacekeeping Forces Russlands „entlang der Kontaktlinie in Berg-Karabach“ disloziert werden. Denn die „Kontaktlinie“ ist identisch mit der Linie, an welcher die aserbaidschanischen Truppen bei Inkrafttreten des Waffenstillstandsvertrages standen. Den rechtlichen und politischen Status einer Verwaltungsgrenze kann die „Kontaktlinie“ naturgemäß nicht haben.

Dementsprechend erstreckt sich das in Punkt 7 verbriefte Recht, unter der Regie des UNHCR an ihre Wohnsitze in Berg-Karabach zurückzukehren auch auf alle Armenier, die bis zu ihrer Flucht oder Vertreibung etwa in Hadrut und in den Dörfern und Siedlungen in dem von aserbaidschanischen Truppen besetzten Teil Berg-Karabachs ihren Wohnsitz hatten.

Da der Waffenstillstandsvertrag die Grenzen des Gebietes von Berg-Karabach nicht verändert und er auch keine Entscheidung über den politischen und rechtlichen Status Berg-Karabachs getroffen hat, ist die Frage des Status ungeklärt und offen. Das bedeutet, dass über die Frage des Status Berg-Karabachs die Konfliktparteien in Zukunft verhandeln müssen und dass sich – wie bisher – das Mandat der Minsk-Gruppe der OSZE darauf erstreckt, diesen Verhandlungsprozess zu begleiten und ihn zu moderieren.

  • Zur Frage der Verbindlichkeit des zweiseitigen Vertrages

Der Waffenstillstand ist, wie die oben gelieferte juristische Analyse gezeigt hat, ein völkerrechtlicher Vertrag. Der Vertrag ist auch wirksam zustande gekommen. Unterzeichnet hat ihn der Premierminister für die Republik Armenien. Als Chef der Regierung ist er gemäß Art. 152 der Verfassung Armeniens ermächtigt, die Richtlinien der Regierungspolitik zu bestimmen. Dazu gehört auch die Außenpolitik. Aus dem Gesetz der Republik Armenien über den Abschluss völkerrechtlicher Verträge vom März 2018 ergibt sich, dass neben dem Präsidenten der Republik (vgl. Art. 132 Abs. 2 Verfassung RA) auch der Premierminister berechtigt ist, internationale Verträge abzuschließen.

Abkommen über Feuerpausen, über die Einstellung von Kampfhandlungen und Waffenstillstandsabkommen können gemäß Völkerrecht grundsätzlich von militärischen Befehlshabern geschlossen werden. Der Inhalt des Waffenstillstandsvertrages vom 10. November 2020 geht jedoch über die Beendigung der Kampfhandlungen zwischen den aserbaidschanischen und armenischen Streitkräften weit hinaus, indem er die Rückgabe besetzter Gebiete anordnet, Bestimmungen über zwischenstaatliche Verkehrsverbindungen enthält und Russland förmlich als Drittstaat einbezieht und ihm eine Peacekeeping- Mission zuweist. Damit fällt der Waffenstillstandsvertrag in die Kategorie „zwischenstaatlicher Verträge“, die neben dem Regierungschef – anders als Regierungsabkommen – unter Umständen die Mitwirkung weiterer Verfassungsorgane erfordern. Darauf ist hier aber nicht weiter einzugehen, denn aus der maßgeblichen Sicht des Völkerrechts ist der vom Premierminister abgeschlossene Waffenstillstandsvertrag wirksam und die Republik Armenien daher gegenüber der Republik Aserbaidschan als Vertragspartner an ihn gebunden. Armenien muss – ebenso wie Aserbaidschan – den Vertrag erfüllen.

  • Zur Frage einer „Nachbesserung“ des Waffenstillstandsabkommens durch Konkretisierung

Angesichts der gewaltigen Erregung in der Republik Armenien, in Berg Karabach und darüber hinaus in der gesamten armenischen Diaspora über das als Kapitulation empfundene Waffenstillstandsabkommen ist die Frage nur allzu verständlich, ob es die Möglichkeit gibt, als unerträglich empfundene Vertragsbestimmungen wenn nicht zu suspendieren, so doch wenigstens abzumildern und den Vertrag nachzubessern.

Prüft man die einzelnen Vertragsbestimmungen aus diesem Blickwinkel, dann ist zunächst festzustellen und kritisch zu vermerken, dass nahezu alle Bestimmungen des Vertrages einen schwerwiegenden Mangel aufweisen: sie ordnen – lapidar und lakonisch – für ungezählte Menschen mehr oder weniger einschneidende punktuelle Maßnahmen an, lassen aber viele sowohl grundsätzliche, als auch operativ- praktische Probleme offen und enthalten insbesondere fast keine Bestimmungen und Vorschriften darüber, in welchen Verfahren, Schritten und Abfolgen die angeordneten Maßnahmen auszuführen sind. Die auffälligsten Lücken sind, wie schon bemerkt,  Bestimmungen über den rechtlichen Status von Berg-Karabach, über seine administrativen Grenzen und über die Verfassungs- und Verwaltungsorgane der Republik Arcach sowie über das weitere Schicksal der in Berg-Karabach dislozierten integrierten Streitkräfte der Republiken Berg-Karabach und Armenien. Zwar ist in Punkt 4 von ihrem „Abzug“ (vyvod) die Rede, aber über das Wohin, über Fristen und den Status der Streitkräfte schweigt der Vertrag. Darin kommt sein vorläufiger Charakter zum Ausdruck.

Zwar ordnet der Waffenstillstandsvertrag an, dass bis zum 15. und 20. November und bis zu 1. Dezember die Rayone von Kelbadschar, Agdam und Latschin „zurückzugeben“ seien, aber worin die Rückgabe konkret besteht und insbesondere was sie für die in jenen Rayonen teilweise seit Jahrzehnten lebenden Bürger Berg-Karabachs bedeutet, wird nicht bestimmt. Von rechtlichen Garantien spricht der Waffenstillstandsvertrag – mit Ausnahme des Rückkehrrechts der Flüchtlinge (Punkt 7) – an keiner Stelle. Völlig offen bleiben der Status von Shushi/Shusha und die Rechte der dort ansässigen Armenier, insbesondere ihre Religionsausübung, das Schicksal ihrer Eigentums- und Vermögensrechte sowie überhaupt Bestimmungen über den Rechtsstatus der Bürger, die zwar jenseits der „Kontaktlinie“, aber in den während der Sowjetzeit gezogenen administrativen Grenzen Berg-Karabach (NKAO-Gebiet) leben.

Das bedeutet: Der Waffenstillstandsvertrag hat breit klaffende Lücken und sonstige sehr schwerwiegende Regelungsschwächen, die unter den gegebenen Umständen eines noch nicht vereinbarten Friedensvertrages, also eines, rechtlich gesehen, anhaltenden Kriegszustandes für ungezählte Menschen, vor allem aber für die Bürger Berg-Karabachs ernste Gefahren für Leib und Leben, für Freiheit und Eigentum bedeuten. Daraus folgt unabweislich der Schluss, dass der Waffenstillstandsvereinbarung dringend und ohne Verzögerung durch praktische Regelungen ergänzt, konkretisiert und präzisiert werden muss.

Die Initiative dazu müssen die Parlamente der Republiken Armenien und Berg-Karabach ergreifen. Die Nationalversammlungen müssen dafür spezielle Kommissionen bilden und über den Kreis der Abgeordneten hinaus zu der Ausarbeitung rechtlich abgesicherter und realistischer Vorschläge sachkundige Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft hinzuziehen.

Das bedeutet zugleich, dass die Nationalversammlungen jeweils so schnell wie möglich das Kriegsrecht aufheben, zum verfassungsmäßigen Normalzustand zurückkehren und mit der Arbeit beginnen.

  • Zum Problem der Verkehrsverbindung zwischen Aserbaidschan und Nachičevan durch die Republik Armenien/Sjunik (Punkt 9)

Eine überraschende Bestimmung des Waffenstillstandsvertrages ist der Punkt 9 mit dem folgenden Wortlaut:

„Alle ökonomischen und Verkehrsverbindungen in der Region werden deblockiert. Die Republik Armenien garantiert die Sicherheit der Verkehrsverbindung zwischen den westlichen Rayonen der Aserbaidschanischen Republik und der Autonomen Republik Nachitschevan zu dem Zweck, die ungehinderte Bewegung von Bürgern, Verkehrsmitteln und Lasten in beide Richtungen zu organisieren. Die Kontrolle über die Verkehrsverbindung üben die Organe des Grenzdienstes des FSB Russlands aus.

Gemäß Übereinkunft der Seiten wird der Bau neuer Verkehrsverbindungen, welche die Autonome Republik Nachičevan mit den westlichen Rayonen Azerbaidschans verbinden, gewährleistet.“

Es ist offenkundig, dass die Bestimmung die „Gegenleistung“ für die Bestimmung über den „Latschin-Korridor“ zwischen der Republik Armenien und Berg-Karabach (Punkte 3 und 6) ist.

Punkt 9 besteht aus vier Sätzen: Erstens Satz 1 trifft eine generelle Regelung: „alle“ Verbindungen „in der Region“ sollen deblockiert werden, also in einem anderen geographischen Rahmen als „in der Zone des Karabach-Konflikts“ (Punkt 1). Zweitens: Satz 2 und 3 betreffen den Transit von Aserbaidschan nach Nachičevan. Die Rede ist von einer bereits bestehenden Verkehrsverbindung. Das bezieht sich offenkundig auf die Magistrale, die am Fluss Arax bzw. an der Grenze zum Iran entlang durch die Provinz Sjunik, vorbei an der Stadt Megri, nach Nachičevan verläuft. Sie soll für Personen, Fahrzeuge und „Lasten“, d. h. für den Transit der Aserbaidschaner nach und von der aserbaidschanischen Exklave Nachičevan geöffnet werden. Satz 4 fügt dem hinzu, dass „neue“, also weitere Verkehrsverbindungen von Aserbaidschan durch die Provinz Sjunik nach Nachičevan gebaut werden sollen. Diese Bestimmung ist unter den ausdrücklichen Vorbehalt gestellt, dass Armenien und Aserbaidschan eine entsprechende Vereinbarung treffen. Die neuen Verkehrsverbindungen sind nicht näher bestimmt. Es können daher auch andere Verbindungen als Autostraßen sein, z. B. eine Eisenbahnverbindung.

Aktuelle, d. h. in relativ kurzer, überschaubarer Zeit realisierbare Maßnahmen wären die von Satz 1 verkündete Aufhebung bestehender Blockaden, die sowohl die Wirtschaft, unter Einschluss der Energieversorgungswirtschaft, als auch den Verkehr betreffen. Was den Verkehr anbelangt, ist nicht nur an Straßenverbindungen zu denken, sondern auch an den regionalen Eisenbahnverkehr. Mit Blick darauf kann die Formulierung „Verkehrsverbindungen in der Region“ von zukunftsweisender Bedeutung sein. Mehr als das: Wegen ihrer unbestimmten Allgemeinheit rechtfertigt die Formulierung „in der Region“, darunter auch die Verkehrsverbindungen zwischen Nachičevan und Armenien im Ararat-Tal zu verstehen, ganz besonders aber die transkaukasische Eisenbahnlinie von Armenien über Nachičevan und Sjunik nach Aserbaidschan und weiter bis zum Kaspischen Meer.

Da die Bestimmung über die Aufhebung der Blockierung wesentlicher Elemente der Infrastruktur im Südkaukasus in Punkt 9 an erster Stelle und als ein allgemeiner, verbindlicher Grundsatz normiert ist, kommt allen auf die Deblockierung gerichteten Maßnahmen Priorität gegenüber den anderen in Punkt 9 genannten Verkehrsprojekten zu.

Auch wenn lediglich in Satz 4 mit Bezug auf den Bau weiterer Verkehrsverbindungen ausdrücklich von einer „Übereinkunft“ zwischen Armenien und Aserbaidschan die Rede ist, ist es ganz selbstverständlich, dass auch die Maßnahmen zur Deblockierung der Verbindungen in der Region und zum Ausbau des Transitverkehrs nach Nachičevan ohne eine Vielzahl von Vereinbarungen zwischen Armenien und Aserbaidschan nicht denkbar sind, und ebenso wird es im Interesse einer grenzüberschreitenden Entwicklung der gesamten Region zweckmäßig, ja unerlässlich sein, auch den Iran einzubeziehen.

  • Schlussbemerkung

Der Waffenstillstandsvertrag kommt einer Kapitulationsurkunde nahe. Die Härte seiner Bestimmungen und die in ihnen steckenden Gefahren vor allem für die Karabach-Armenier und Berg-Karabach können nur abgemildert und bis zu einem gewissen Grade auch abgewehrt werden, wenn die politischen Führungen Armeniens und Karabachs folgende Maximen und Ziele verfolgen:

Erstens die Formulierung legitimer Forderungen, praktischer Regelungsvorschläge und Verfahrensmechanismen, die darauf gerichtet sind, die Regelungslücken, Unbestimmtheiten und Widersprüchlichkeiten des Waffenstillstandsvertrages mit dem Ziel zu schließen, die elementaren Menschenrechte der Bürger der Republik Berg-Karabach in den administrativen NKAO-Grenzen zu schützen.

Zweitens: In vollem, uneingeschränkten Vertrauen auf die das friedliche Leben wahrende Blau-Helm-Mission Russlands sollten die Karabach-Armenier den Mut haben, nach Berg-Karabach (NKAO-Gebiet) in die bisherigen Wohnsitze zurückzukehren, dort die noch bewohnbaren Häuser und Wohnungen wieder zu beziehen sowie die im Krieg zerstörten oder unbewohnbar gemachten Gebäude unter Nutzung der für Karabach organisierten humanitären Hilfeleistungen aus der Republik Armenien, aus der Diaspora und von sonstiger Seite wieder bewohnbar zu machen.

Drittens: Hartnäckig alle nötigen politischen und diplomatischen Schritte unternehmen, um die Mitgliedstaaten der Minsk-Gruppe der OSZE und vor allem ihre drei Staaten-Koordinatoren – Russland, USA und Frankreich – dazu zu bewegen, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, dass die Existenz des armenischen Volkes von Berg-Karabach auch in der Zukunft gesichert ist.

Viertens: Von Seiten der Republik Armenien und der weltweiten armenischen Diaspora eine fortwährende Unterstützung der Republik Berg-Karabach/Arcach organisieren, die internationalen Verbindungen Berg-Karabachs mit Armenien und darüber hinaus wiederherzustellen und zu stärken, die Kriegs- und Bombenschäden in Berg-Karabach zu beseitigen und den Wiederaufbau Berg-Karabachs durch internationale Hilfsprogramme und Auslandsinvestitionen zu fördern.

Anhang: Erklärung des Präsidenten der Aserbaidschanischen Republik, des Premierministers der Republik Armenien und des Präsidenten der Russischen Föderation

(Übersetzung aus dem Russischen von O. Luchterhandt)

„Wir, der Präsident der Aserbaidschanischen Republik, I.G. Aliev, der Premierminister der Republik Armenien, N.V. Paschinjan, und der Präsident der Russischen Föderation, V.V. Putin, haben Folgendes erklärt:

1.       Verkündet werden die vollständige Einstellung des Feuers und aller militärischer Aktionen in der Zone des Berg-Karabach-Konflikts ab 0 Uhr 00 Minuten des 10. November 2020 Moskauer Zeit. Die Aserbaidschanische Republik und die Republik Armenien, im Weiteren die Seiten genannt, bleiben auf den von ihnen eingenommenen Positionen.

2.       Der Rayon von Agdam wird der Aserbaidschanischen Republik bis zum 20. November 2020 zurückgegeben.

3.       Entlang der Kontaktlinie in Berg-Karabach und entlang dem Latschin-Korridor wird ein friedenschaffendes Kontingent der Russischen Föderation im Umfang von 1960 Wehrbediensteten mit Schusswaffen, 90 gepanzerten Fahrzeugen und 380 Einheiten von Automobil- und Spezialtechnik disloziert.

4.       Das friedenschaffende Kontingent der Russischen Föderation wird parallel zu dem Abzug (vyvod) der armenischen Streitkräfte disloziert. Der Zeitraum des Aufenthaltes des friedenschaffenden Kontingents der Russischen Föderation beträgt 5 Jahre mit automatischer Verlängerung um weitere 5-Jahresperioden, sofern nicht eine der Seiten 6 Monate vor Ablauf des Zeitraumes erklärt, die Anwendung der betreffenden Bestimmung zu beenden.

5.       Zum Zwecke der Erhöhung der Effektivität der Kontrolle über die Erfüllung der Abmachungen (dogovorennostej) wird ein friedensschaffendes Zentrum zur Kontrolle über die Feuereinstellung disloziert.

6.       Die Republik Armenien gibt der Aserbaidschanischen Republik bis zum 15. November 2020 den Kelbadschar Rayon zurück und bis zum 1. Dezember 2020 den Latschin Rayon. Ein Latschin-Korridor (5 km Breite), der die Verbindung von Berg-Karabach mit Armenien gewährleistet und dabei die Stadt Schuscha nicht berühren wird, verbleibt unter der Kontrolle des friedenschaffenden Kontingents der Russischen Föderation.

Gemäß einer Übereinkunft der Seiten wird in den nächsten drei Jahren ein Plan für den Bau einer neuen Strecke (maršruta dviženija) durch den Latschin-Korridor festgestellt, der die Verbindung zwischen Berg-Karabach und Armenien gewährleistet, mit nachfolgender Re-Dislozierung (peredislokaciej) des russischen friedenschaffenden Kontingents zum Schutze dieser Strecke.

Die Aserbaidschanische Republik garantiert die Sicherheit der Bewegung im

Latschin-Korridor für Bürger, Verkehrsmittel und Lasten in beide Richtungen.

7.       Internally Displaced Persons (vnutrennie peremeščennye lica) und Flüchtlinge (bežency) kehren in das Territorium von Berg-Karabach und in die angrenzenden Rayone unter der Kontrolle der Verwaltung des UN-Hochkommissars für die Angelegenheiten der Flüchtlinge (UNHCR) zurück.

8.       Es wird der Austausch der Kriegsgefangenen, Geiseln und anderen festgehaltenen Personen und der Körper der Gefallenen durchgeführt.

9.       Alle ökonomischen und Verkehrsverbindungen in der Region werden deblockiert. Die Republik Armenien garantiert die Sicherheit der Verkehrsverbindung zwischen den westlichen Rayonen der Aserbaidschanischen Republik und der Autonomen Republik Nachitschevan zu dem Zweck, die ungehinderte Bewegung von Bürgern, Verkehrsmitteln und Lasten in beide Richtungen zu organisieren. Die Kontrolle über die Verkehrsverbindung üben die Organe des Grenzdienstes des FSB Russlands aus.

Gemäß Übereinkunft der Seiten wird der Bau neuer Verkehrsverbindungen, welche die Autonome Republik Nachičevan mit den westlichen Rayonen Azerbaidschans verbinden, gewährleistet.“