Die aufgrund der kriegerischen Auseinandersetzung Evakuierten bzw. Geflüchteten aus der Republik Artsakh (Berg-Karabach) benötigen dringend humanitäre Hilfe

Pressemitteilung: 18. November 2020

Die Deutsch-Armenische Juristenvereinigung e.V. schaut seit dem Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung am 27. September 2020 besorgt nach Artsakh (Berg-Karabach).

Begründet durch unsere Satzung als gemeinnütziger Verein sehen wir es als unsere Pflicht an, nicht nur auf Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und den Bruch des internationalen Rechts durch die aserbaidschanischen Streitkräfte hinzuweisen, sondern ebenso auf die Konsequenzen, die der Krieg und die trilaterale Ankündigung vom 9. November 2020 für die Republik Artsakh, praktisch zur Folge hat.    

In unseren Berichten haben wir mehrfach und ausführlich darauf hingewiesen, dass die Bevölkerung der Republik Artsakh von Vertreibung und Vernichtung bedroht ist.[1] Laut der Volkszählung von 2015 lebten in der Republik Artsakh, seiner Hauptstadt Stepanakert und deren 7 Regionen bzw. Provinzen, 146.260 Menschen.[2] In der Hauptstadt selbst leben mehr als 50.000 Menschen.

Mit Beginn der erneuten kriegerischen Auseinandersetzung am 27. September 2020 wurden die Städte und die Ortschaften der Republik Artsakh zielgerichtet mit der Absicht bombardiert, die zivile Bevölkerung systematisch aus diesen Gebieten zu vertreiben. Gemäß dem Bericht des Ombudsmanns der Republik Artsakh vom 24. Oktober 2020 wurden infolge des Krieges rund 90.000 Menschen aus der Republik Artsakh evakuiert und sind geflüchtet.[3] Infolge der durch die Republik Aserbaidschan erfolgten Bombardierungen wurden mehr als 40% der Hauptstadt der Republik Artsakh und andere Orte zerstört.[4]

Aufgrund der am 9. November 2020 gemachten Ankündigung wurden zwar die kriegerischen Handlungen eingestellt, jedoch musste Artsakh 80 % des ursprünglichen Gebietes an Aserbaidschan abtreten. Folglich stellt sich die eklatant wichtige Frage, wie, ob und wenn, unter welchen Voraussetzungen geflüchtete Armenier in diese jetzt zum Teil an Aserbaidschan abgetretenen Gebiete zurückkehren sollen, wenn Ihnen keine Sicherheit in eben diesen Territorien gewährleistet werden kann.

In diesem Zusammenhang treten drei unterschiedliche Problemfelder für die zurückkehrenden Evakuierten bzw. Geflüchteten auf:

  1. Es gibt diejenigen Personen, die ihre Häuser in den Gebieten des ehemaligen autonomen Gebiets Berg-Karabach (NKAO), insbesondere in den Regionen Hadrut und Shushi sowie in Teilen der Regionen Martuni und Martakert, verlassen haben und durch die neuen Gegebenheiten gezwungen wären, in Territorien der Republik Aserbaidschan zurückzukehren (ca. 30.000 Einwohner).
  2. Es gibt diejenigen Personen, die ihre Häuser in den Grenzgebieten der ehemaligen NKAO verlassen haben, insbesondere in den Regionen Kelbajar, Lachin, Zangelan und Kubatli, die ab dem 1. Dezember 2020 unter die Kontrolle der Republik Aserbaidschan fallen werden (ca. 12.000 Einwohner).
  3. Es gibt diejenigen Personen, die aus den Regionen unter der Kontrolle der Republik Artsakh (Stepanakert, Askeran, Martuni und Martakert) evakuiert wurden. Diese evakuierten Gruppen stehen zwar nicht vor der Problematik auf aserbaidschanisches Land zu müssen, aber sie können nur in vollkommen zerstörte Gebiete zurückkehren, da im Besonderen diese Gebiete schwer bombardiert wurden (ca. 30-40.000 Einwohner).

Diese Darstellung weist bereits die Komplexität der jetzigen Situation auf. Doch diese hört an diesem Punkt nicht auf, sondern manifestiert sich weiter in der Frage, welchen Status die „Evakuierten“ bzw. „Geflüchteten“ überhaupt erhalten, um die für sie dringlich benötigte nationale bzw. internationale humanitäre Unterstützung zu erhalten. Die außergewöhnliche Problematik spiegelt sich in der unterschiedlichen Kontrolle der Gebiete durch entweder die Republik Aserbaidschan oder die der Armenier wider. Die damals geflüchteten Artsakh-Armenier haben ihr Land nämlich zu einem Zeitpunkt armenischer Kontrolle verlassen. Dies würde ihnen gemäß der 1951 Genfer Flüchtlingskonvention den Status als „Flüchtling“ verwehren, da eine der Grundvoraussetzungen für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus‘ der Aufenthalt außerhalb des Landes ist, dessen Staatsangehörigkeit der Geflüchtete besitzt. Die Artsakh-Armenier haben zwar zum Zeitpunkt des Krieges die Staatsgrenzen der Republik Armenien überquert, jedoch haben sie als Artsakh-Armenier ausnahmsweise die armenische Staatsangehörigkeit inne,[5] so dass sie folglich nur als Binnenvertriebene deklariert werden können. Demnach wäre folglich die Republik Armenien für ihre Sicherheit bzw. humanitäre Unterstützung gemäß der Leitlinie 3 der Guiding Principles on Internal Displacement zuständig.

Da aufgrund der gemachten Ankündigung eine de jure Verschiebung der Artsakh-Territorien an Aserbaidschan stattfindet, stellt sich die Frage, ob sich eben dieser Status als Binnenvertriebener zu einem des Flüchtlings für die sich sodann unter aserbaidschanischer Kontrolle befindenden Gebiete verändert. Denn zum einen überqueren die geflüchteten Artsakh-Armenier durch die Aufgabe der armenischen Kontrolle nun noch eindeutiger eine Staatsgrenze, und zum anderen müssten sie in Gebiete zurückkehren, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht haben. Gemäß der oben aufgeführten unterschiedlichen Problemfelder würde sich mithin folgendes ergeben: Die Personengruppen unter Punkt 1 und Punkt 2 könnten als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention definiert werden, während die geflüchteten Armenier der Gruppe 3 weiterhin nur den Status der Binnenvertriebenen erhielten. Der UNHCR könnte sich mithin dem Schutz und der humanitären Hilfe der ersten und zweiten Gruppe annehmen, der dritten jedoch nicht. Dies würde das ganze Prinzip ad absurdum führen, so dass der UNHCR hier ebenso für die Gewährleistung der Sicherheit und unmittelbare humanitäre Hilfe im Sinne der Flüchtlingskonvention angerufen werden kann.

Auch bei einer restriktiven Auslegung aller Artsakh-Armenier als Binnenvertriebene, hätten der UNHCR, als „other appropriate actor“ und andere internationale humanitäre Organisationen gemäß der Leitlinie 25, Absatz 2 der Guiding Principles on Internal Displacement das Recht, ihre internationale Unterstützung anzubieten.

Angesichts der derzeit schwierigen und angespannten Situation, der zerbombten Orte und Städte, der vielen Gefallenen und der kommenden Kälte entsteht für die Evakuierten und Geflüchteten eine akute Notlage, die die Republik Armenien – als Sicherheitsgarant der Bevölkerung der Republik Artsakh – allein nicht überwinden kann.

Wie bereits oben ausführlich erläutert, müsste der UNHCR für gewisse Bezirke ganz eindeutig das Mandat übernehmen, und Armenien unmittelbar humanitäre Unterstützung bieten. Es sei auch nochmals darauf hinzuweisen, dass es sich innerhalb dieses konkreten Konflikts um keinen nationalen, sondern internationalen Konflikt handelt und die Binnenvertriebenen nicht als klassische Binnenflüchtlinge innerhalb eines Territoriums zu definieren sind.

Zudem sei zu vermerken, dass sich der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen selbst in Fällen eindeutiger Binnenvertreibung der Unterstützung und Hilfe angenommen hat.[6] Dies wird nicht nur mit dem Verweis auf Paragraph 9 des 1950 Statute of the Office of the UNHCR gerechtfertigt, welcher erwähnt, dass  

„The High Commissioner shall engage in such additional activities, including repatriation and resettlement, …” ,

sondern ebenfalls in der von der UN-Generalversammlung erlassenen Resolution aus dem Jahre 2010 abermals unterstrichen. Paragraph 11 der Resolution

“Takes   note   of   the   current   activities   of   the   Office   of   the   High   Commissioner related to protection of and assistance to internally displaced persons, including  in  the  context  of  inter-agency  arrangements  in  this  field …“[7]

Darüber hinaus verweisen die Resolutionen 46/182 und 58/114 der UN-Generalversammlung zur Stärkung der Koordinierung der humanitären Nothilfe der Vereinten Nationen darauf, dass die Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit als Prinzipien für die weltweite humanitäre Hilfe anzusehen sind.    

Diese Prinzipien wurden auch auf der Europäischen Ebene durch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 14. November 2007 zu einem europäischen Konsens zur humanitären Hilfe des (2007/2139(INI)) bestätigt.

Auch Deutschland hat die Prinzipien der humanitären Hilfe in ihrer Außenpolitikstrategie implementiert.

„Die den humanitären Prinzipien verpflichtete humanitäre Hilfe des Auswärtigen Amts orientiert sich bei ihrer Umsetzung an drei Gestaltungsprinzipien: Bedarfsorientierung, Subsidiarität und Schadensvermeidung. Entscheidendes Kriterium für das Leisten von Hilfe ist der humanitäre Bedarf. Zudem wird die Hilfe subsidiär gewährt, das heißt nur dort, wo die Regierung des betroffenen Staates oder andere Akteure dies selbst nicht ausreichend können oder wollen.

Aus den oben gemachten Erläuterungen und der Darstellung der Komplexität dieses Konflikts appellieren wir nicht nur an die Deutsche Bundesregierung, sondern auch an Nichtregierungsorganisationen, Humanitäre Organisationen und das Hohe Flüchtlingskommissariat, sowohl der Bevölkerung der Republik Arstakh als auch der Republik Armenien, in der der größte Teil der Flüchtlinge Schutz sucht, im Rahmen der festgelegten Grundsätze der humanitären Hilfe aufgrund der akuten Notlage, Hilfe zu leisten.


[1] Siehe Die Laufenden Berichte der Deutsch-Armenischen Juristenvereinigung über den Krieg um die Republik Artstakh, Fassung 27.10.2020, S. 7, unter: https://dearjv.de/onewebmedia/C_Fassung%2027.10_LaufendeBerichte_DEARJV.pdf.

[2] Quelle: https://www.aniarc.am/2016/03/30/census-nk-2015-december-1-9/.

[3] https://www.shantnews.am/news/view/789741.html.

[4] https://armeniasputnik.am/karabah/20201104/25187802/bnakichneri-30-tokos-qaxaqum-e-kan-naev-erexaner-stepanakerti-qaxaqapet.html

[5] Obwohl die Armenier der Republik Artsakh Staatsbürger der Republik Armenien sind, haben sie in der Republik Armenien keine politischen Rechte und sonstigen Pflichten. Diese Staatsbürgerschaft wird den Bürgern der Republik Artsakh gewährt, da die Republik Armenien der Sicherheitsgarant der Bevölkerung von Artsakh ist.

[6] Georgien, Bosnien, Afghanistan und Pakistan sind nur einige Krisengebiete, in denen der UNHCR ohne eindeutiges Mandat tätig wurde

[7] General Assembly Resolution 65/194 of 21 December 2010, para. 11.