Am 27. Oktober 2020 reichte die Republik Aserbaidschan einen Antrag ein und begehrt seinerseits den Erlass vorläufiger Maßnahmen gegen die Republik Armenien nach Regel 39 EGMR-VerfO (application number 47319/20).

Die Republik Armenien hat ihrerseits in dieser Sache Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen die Republik Aserbaidschan und die Türkei eingereicht. Mit ihren Anträgen vom 28. September 2020 (application number 42521/20) und 4. Oktober 2020 (application number 43517/20) verlangte sie konkret den Erlass vorläufiger Maßnahmen gegen die beiden Staaten nach Regel 39 der Verfahrensordnung des EGMR (EGMR-VerfO).

Der EGMR erließ daraufhin am 29. September 2020 (ECHR 265 (2020)) und am 6. Oktober 2020 (ECHR 276 (2020)) vorläufige Maßnahmen gegen alle beteiligten Staaten. Konkret rief es mit seiner Entscheidung vom 6. Oktober 2020 alle Staaten, die direkt oder indirekt an dem Konflikt beteiligt sind, einschließlich der Türkei, auf, den Pflichten aus der Konvention nachzukommen und alle Handlungen zu unterlassen, die zu Menschenrechtsverletzungen führen.

Was zunächst wie ein juristisch ernstzunehmender Gegenangriff erscheint, stellt sich bei genauerer Betrachtung lediglich als rhetorische Feindseligkeit dar. Der Wortlaut des Begehrens Aserbaidschans lautet wie folgt:

  • To stop shell and missile attacks, from its territory and the occupied territories of the Republic of Azerbaijan, on residential areas, public premises, cemeteries and other civil infrastructure in the territory of Azerbaijan;
  • To stop military, political, financial and other support to criminal ‘authorities’ on the occupied territories of the Republic of Azerbaijan;
  • To stop sending its armed forces, military equipment and so-called ‘volunteers’ – in fact mercenaries – to the sovereign territory of the Republic of Azerbaijan, and refrain from inviting its and foreign nationals on the territory of Azerbaijan;
  • To withdraw its armed forces and militants illegally stationed on the territory of the Republic of Azerbaijan;
  • To refrain from pursuing the policy of hatred towards the Republic of Azerbaijan and its nationals.

Der Antragsteller hat seine auf Regel 39 EGMR-VerfO zielenden Behauptungen hinreichend glaubhaft zu machen.[1] Selbst wenn dies Aserbaidschan möglich sein sollte, wäre der Antrag gleichfalls zum überwiegenden Teil nicht erfolgreich.

Nach Regel 39 Abs. 1 EGMR-VerfO kann der EGMR gegenüber den Parteien, also auch gegenüber dem den Antrag einlegenden Staat, vorläufige Maßnahmen (sogenannte interim measures) treffen, die im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs ergriffen werden sollten. Nach der Praxis des Gerichts geschieht das nur in begrenzten Bereichen und nur, wenn die unmittelbare Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens droht.[2] Da Beschwerden vor dem EGMR keine aufschiebende Wirkung zukommt[3], kann der Erlass entsprechender vorläufiger Maßnahmen notwendig sein, um den Eintritt eines solchen Schadens zu verhindern. Dabei setzt der Erlass einer solchen Maßnahme insbesondere eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür voraus, dass der Beschwerdeführer bei Nicht-Erlass der Maßnahme in seinen Rechten aus der Konvention (nochmals) verletzt wird. [4]

Daran fehlt es bei den Bulletpoints zwei bis fünf. Sie lassen schon im Ansatz nicht erkennen, inwieweit diese Handlungen die von der EMRK geschützten Rechte und Freiheiten tangieren sollen. Keines der in den Artt. 2 – 18 EMRK genannten Schutzgüter wird in irgendeiner Weise durch die in den Bulletpoints zwei bis fünf genannten Handlungen berührt. Sie betreffen allesamt lediglich die behauptete territoriale Integrität Aserbaidschans, die als solche keine Erwähnung in der EMRK findet. Der Schutz der EMRK gilt den Menschen vor Eingriffen durch den Staat, nicht hingegen dem Schutz eines Staates gegenüber dem vermeintlichen Eingriff eines anderen.

Einzig und allein der erste Bulletpoint des Antrags ist auf den Schutz solcher Rechtsgüter gerichtet, deren Schutz auch die EMRK bezweckt. Der Antragsteller behauptet insoweit einen Angriff der Republik Armenien auf Wohngebiete, öffentliche Einrichtungen, Friedhöfe und andere zivile Infrastruktur Aserbaidschans, die nicht nachweisbar ist.

Außerdem hat die Repbulik Aserbaidschan bis jetzt die Anordnung v. 30. September 2020 nicht umgesetzt.

Mit Entscheidung vom 4. November 2020 stellte EGMR fest, dass die Anfrage Gegenstände betrifft, die nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs fallen. Im gleichen Atemzug bestätigte und bekräftigte der EGMR seine zuvor getroffenen Entscheidungen, wonach alle beteiligten Staaten ihre Pflichten aus der Konvention zu beachten und alle Handlungen zu unterlassen haben, die zu Menschenrechtsverletzungen führen. Der EGMR wies dabei ausdrücklich darauf hin, dass auch die Menschenrechte von Kriegsgefangenen nicht verletzt werden dürfen. Dabei nahm er Bezug auf den Antrag der Republik Armenien vom 18. Oktober 2020, wonach Armenien eben dies forderte.Anlass des Antrags von Armenien waren Videos und Fotos ermordeter und gefolterter Kriegsgefangene durch aserbaidschanische Streitkräfte.


[1] Lenz in: Quaas/Zuck/Funke-Kaiser, Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Auflage 2018, § 9 Rechtsschutz vor europäischen Gerichten Rn. 145.

[2] Meyer-Ladewig/von Raumer in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Auflage 2017, Einleitung Rn. 58.

[3] Vgl. Meyer-Ladewig/von Raumer a.a.O.

[4] Lenz in: Quaas/Zuck/Funke-Kaiser, Prozesse in Verwaltungssachen, 3. Auflage 2018, § 9 Rechtsschutz vor europäischen Gerichten Rn. 144.